Entlohnung und Versorgung in der WfB

Mindestlohn oder nicht ... das ist hier (nicht) die Frage        (PDF)

 

Am 28.April 2021 wurde WFB-Geschäftsführer Klaus Przybilla von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) über eine aktuelle Petition auf www.change.org aufmerksam gemacht.

,, ... wir möchten Sie informieren, dass es zurzeit verstärkt Falschinformationen über die Arbeit und Ausrichtung von Werkstätten für behinderte Menschen in den Medien gibt. Der Fokus liegt hierbei auf der Entgeltsituation der Werkstatt­ beschäftigten. (... ) Die BAG WfbM hat bereits auf mehrere Veröffentlichungen reagiert. Des Weiteren hat sich die SAG WfbM mit einer Stellungnahme zu den Vorwürfen gegen Werkstätten auf ihrer Website unter https://www.bagwfbm.de/article/5199 positioniert."

Es ging um die Petition ,,#StelltUns Ein - Ich fordere den Mindestlohn für Menschen in Behindertenwerkstätten!" an Bundesfinanzminister Olaf Scholz, die auf Change.org veröffentlicht wurde. In der genannten Petition verlangt der infolge einer Hirnhautentzündung behinderte Lukas Krämer, dass im Rahmen der in der UN-Behindertenrechtskonvention geforderten Inklusion allen in Werkstätten arbeitenden Menschen mit Behinderung der Mindestlohn gezahlt werden muss. Krämers Hauptargument: Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) in Deutschland zahlten ihren Mitarbeitenden im Durchschnitt 1,35 Euro pro Stunde, während sie acht Milliarden Euro Umsatz im Jahr machten. ,,Das Konzept der Behindertenwerkstätten ist im Grunde kriminell und gehört abgeschafft.", so Krämer. Am 25. Mai hatten rund 110.000 Menschen diese Petition unterschrieben.

Immerhin wesentlich mehr Unterzeichner als Ende des Jahres 2019 eine Online-Petition von Iris Spranger aus Berlin, ebenfalls auf Change.org. Auch da war die Diskussion um den Mindestlohn für Mitarbeitende in WfbM heftig entbrannt. Unter anderem in der Süddeutschen Zeitung gab es einen Artikel von Natascha Holstein "Menschen mit Behinderung: Stundenlohn: 1,30 Euro". Iris Spranger, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, stellvertretende Landesvorsitzende der SPD Berlin und Kreisvorsitzende in Marzahn-Hellersdorf, hatte daraufhin die Petition an die Bundesregierung initiiert. Trotz medialer Unterstützung blieb diese allerdings bei 6.421 Unterschriften hängen. Anfangs hatten sich allerdings sofort die üblichen Verdächtigen von Jusos und SPD - allen voran Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos, und Gaby Bischoff, Abgeordnete im Europaparlament für die SPD Berlin - sowie viele aus Marzahn-Hellersdorf und einige Aktivisten wie z. B. Raul Krauthausen, Vorsitzender der Berliner "Sozialhelden", als Erstunterzeichner profiliert. "Gesetzlicher Mindestlohn in Behindertenwerkstätten, jetzt!" lautete die Forderung und "Wir fordern die Bundesregierung auf, das Mindestlohngesetz (MiLoG) so zu ändern, dass Menschen mit Behinderung den gesetzlichen Mindestlohn in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) bekommen." Behinderte Menschen würden wie Menschen zweiter (Arbeiter)-Klasse behandelt, weil sie lediglich ein arbeitnehmerähnliches Beschäftigungsverhältnis hätten.

Wieder einmal waren die Werkstätten die Schuldigen: "Menschen mit Behinderung werden in die Behindertenwerkstätten abgeschoben, wenn sie in der Schule das Minimum erreichen, weil Inklusion in der Schule immer noch nicht funktioniert. Dort verbringen sie notgedrungen ihr ganzes Arbeitsleben mit einer Aufwandsentschädigung von weniger als 2 Euro/Stunde."

Als Begründungen für die Forderung folgen, ähnlich wie bei Krämers Petition, die UN-Behindertenrechtskonvention, Falschaussagen und Polemik: "In Deutschland arbeiten rund 310.000 Menschen mit Behinderungen in ca. 740 Werkstätten. Diese Werkstätten erwirtschaften einen Umsatz von rund 8 Milliarden Euro. Werkstätten für behinderte Menschen werden durch den Staat vollfinanziert. (...) Der Irrtum, dass Menschen mit Behinderung nur Besen produzieren, sollte widerlegt sein. Sie sind Teil der Produktionskette für und in der Industrie. Sie bestücken Leiterplatten, fräsen mit CNC-Maschinen (...), produzieren Kunststoffprodukte, Kommissionieren in der Lagerlogistik der Werkstätten oder sind in der Garten- und Landschaftspflege tätig."(...) Industrieunternehmen bräuchten wegen der Werkstätten nicht in Schwellenländer zu verlagern, profitierten von den hohen Qualitätsstandards der Werkstätten, würden sich der Nachhaltigkeit rühmen und könnten die Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabe teilweise verrechnen lassen.

(Quelle: www.change.org/p/bundesregierung-gesetzlicher-mindestlohn-in-behindertenwerkst%C3%A4tten-jetzt)

Ein bisschen mehr und bessere Recherche und vielleicht objektive Beratung durch Leute, die sich damit auskennen, hätten Lukas Krämer und Iris Spranger nicht geschadet. Die meisten Unterzeichner der Petitionen haben vermutlich noch nie eine Werkstatt von innen gesehen haben und darüber hinaus wenig Ahnung, wie Werkstatt funktioniert, und kennen auch keine Menschen, die in Werkstätten arbeiten. Es geht ums Prinzip.

Tatsache ist, dass wir mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention nach 10 Jahren noch ganz am Anfang stehen. Nicht weil die Werkstätten es nicht schaffen und Inklusion tatsächlich schon in den Schulen nicht funktioniert, sondern weil sich unsere Gesellschaft an Erfolg, Fortschritt, Wachstum, Weiterentwicklung und Gewinnmaximierung orientiert, und weil sich die Reichen und Superreichen an Luxus und weiterem Reichtum orientieren und nicht an sozialer Gerechtigkeit für alle und etwas mehr gleichmäßiger Verteilung des Reichtums. Eine Umsetzung des gut gemeinten lnklusionsgedankens ist ebenso unrealistisch wie weltfremd, solange die Welt so ist wie sie ist und die Menschen so sind wie sie sind.

Tatsache ist, dass die Werkstätten gezwungen sind, Erlöse zu erwirtschaften, weil sie eben nicht vollfinanziert werden, sondern einen Teil ihrer Kosten selbst erwirtschaften müssen. Träger der WfbM sind in vielen Fällen gemeinnützige Vereine wie die Lebenshilfe e. V. oder Kreise und kreisfreie Städte. In NRW sind der Landschaftsverband Rheinland und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe die Haupt-Leistungsträger für die Menschen in den Arbeitsbereichen. Für die Mitarbeitenden im Berufsbildungsbereich zahlt die Bundesagentur für Arbeit zum überwiegenden Teil. Diese Leistungsträger decken rund 90% der Kosten für den Betrieb einer Werkstatt. Die restlichen 10% müssen die Werkstätten durch produktive Dienstleistung und Eigenprodukte selbst erwirtschaften.

Von diesem Arbeitsergebnis müssen mindestens 70% als Lohnentgelte wieder ausgeschüttet werden. Von dem, wenn überhaupt, verbleibenden Gewinn werden Investitionen getätigt, der Rest geht in eine vorgeschriebene Ertragsschwankungsrücklage für Krisensituationen.

Tatsache ist, dass der Irrtum mit der Besenproduktion in den Köpfen der Bevölkerungsteile, die mit Menschen mit Behinderung und Werkstätten nichts zu tun haben (und das oft auch nicht wollen), vielfach noch nicht widerlegt ist. Werkstätten haben nach wie vor ein Imageproblem (vgl. blickpunkt 79).

Tatsache ist auch, dass die Werkstätten auf Industrieunternehmen als Kunden angewiesen sind. Schlimmer ist aber, dass viele Unternehmerin nicht bereit sind, bei der Beschäftigung von behinderten Manschen mitzuwirken. Sinnvoll wäre es deshalb, die Ausgleichsabgabe drastisch zu erhöhen, damit es für die Unternehmen, die weder Menschen mit Behinderung beschäftigen, noch in Werkstätten produzieren lassen, richtig teuer wird, sich davon frei zu kaufen. Bei der Unternehmer-freundlichen Politik, die in Deutschland vorherrscht, ist darauf aber nicht zu hoffen. Das wäre mal ein Ansatz für eine Petition.

Auch die Autorin des Artikels „Menschen mit Behinderung: Stundenlohn 1,30 Euro" vom 16. Dezember 2019 in der Süddeutsche Zeitung, Natascha Holstein, hat sich keine Mühe gemacht, zu recherchieren, warum in den WfbM kein Mindestlohn bezahlt wird. Es wird nur am Rande angedeutet, aber unkommentiert gelassen. Sie fragt, ob es fair sei, dass Menschen mit Behinderung kein "normales" Arbeitsverhältnis in Werkstätten hätten. Sie sollte aber ebenso wie Anne Gersdorff vom Berliner Verein "Sozialhelden" wissen, dass man mit Fragen der Fairness oder Gerechtigkeit an vielen Stellen in Deutschland nicht weiter kommt. Diese "Ungerechtigkeit" wurde vom Gesetzgeber im Sozialgesetz­ buch IX so festgelegt.

"Wenn es einen Mindestlohn für alle gibt, dann sollte er auch für alle gelten." sagt Anne Gersdorff. Es gibt aber keinen Mindestlohn für alle. Der Mindestlohn soll sicherstellen, dass alle, die Vollzeit in einem "normalen" = sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis arbeiten, auch für einfache und ungelernte Arbeiten wenigstens einen Mindest-Stundenlohn erhalten, der ihre Ausbeutung verhindert. Menschen mit Behinderung in einer WfbM arbeiten nicht in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis, sondern befinden sich in einer Rehabilitationsmaßnahme.

Der Begriff "arbeitnehmerähnliches Verhältnis" wurde kreiert, weil sich die Mitarbeitenden in der Werkstatt in einer Rehabilitationsmaßnahme befinden und nicht auf einem "normalen" Arbeitsplatz. Gerichte lehnen die Anwendung des Mindestlohngesetzes auf Werkstattbeschäftigte wegen eben dieser Einstufung ab. Für ihre "Entlohnung" ist auch kein "normaler" Arbeitgeber zuständig, sondern die Sozialsysteme der BRD: Leistungen zur Eingliederung, zur Teil­ habe am Arbeitsleben und an der Gesellschaft und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes.

Natascha Holstein führt selbst an, "Menschen mit Behinderung genießen in einer Werkstatt Arbeitsschutz, ohne dass für sie die Pflichten eines Arbeitnehmerverhältnisses bestehen. Sie müssen ihre Arbeit beispielsweise nicht in einer bestimmten Zeitspanne erledigen und sie können nicht entlassen werden. Und sie bekommen keinen Mindestlohn."

Der letzte Satz müsste lauten: "Und genau deshalb bekommen sie keinen Mindestlohn."

Dann wird die Rechnung aufgemacht: "Menschen mit Behinderung erhalten von Januar (A.d.R. 2020) an in einer Werkstatt einen Grundbetrag von 89 Euro. Hinzu kommen gegebenenfalls ein Steigerungsbetrag, der sich nach der erbrachten Leistung richtet, und ein sogenanntes leistungsunabhängiges Arbeitsförderungsgeld. Im Jahr 2016 lag das Durchschnittseinkommen von Arbeiterinnen und Arbeitern in den Werkstätten nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums bei etwa 180 Euro. Bei einer Arbeitswoche von 35 Stunden sind das etwa 1,30 Euro pro Stunde. Viel mehr als ein Taschengeld ist das nicht. Zum Vergleich: Der Mindestlohn beträgt derzeit 9,19 Euro die Stunde."

Eigentlich müsste die Rechnung lauten, wie auf der Grafik oben dargestellt ist. Ein Werkstattbeschäftigter mit Grundsicherung / Erwerbsminderungsrente verdiente 2016 im Durchschnitt 1.502 €.

206 Euro Taschengeld hat sie/er zur persönlichen Verfügung, bekommt aber Wohnen und andere Sozialleistungen, Essen und den Fahrdienst von und zur Werkstatt aus den Sozialsystemen bezahlt.

Nach 20 Jahren besteht ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente, die anstelle der Grundsicherung gezahlt werden kann. Nach 45 Jahren Arbeit in einer WfbM erhält die/der Mitarbeitende eine Rente von 1.297 €, so als hätte sie/er monatlich rund 3.185 € verdient.

Die Vergleichsrechnung bei Zahlung von Mindestlohn steht auf der Grafik oben.

 

Bei einer durchschnittlichen Monatsarbeitszeit von 152,25 Stunden und einem Mindestlohn von 8,84 € (2016) hätte ein/e Mitarbeitende/r 1.345,89 € Mindestlohn brutto bekommen.

Davon wären abgegangen: Sozialversicherungsbeiträge (Kranken-/Pflege-/Rentenversicherung), Arbeitslosenversicherung Steuer und Solidaritätszuschlag.

Es wäre ein verfügbares Einkommen von 1.032 € übriggeblieben.

Davon hätte sie/er bezahlen müssen: Miete für das Wohnen in einer stationären/ambulanten Wohnform / freier Wohnungsmarkt Wohnnebenkosten: (Heizung, Strom, Grundsteuer usw.) Lebenshaltungskosten (Essen, Kleidung usw.) Unterstützungsleistungen, die aufgrund der Behinderung notwendig sind (Hilfsmittel, Assistenz usw.).

Was dann übrig blieb, wäre zur persönlichen Verfügung gewesen. Schwer vorstellbar, dass das mehr als 206 € gewesen wären.

Mit dem Ausscheiden aus der Finanzierung durch die Sozialsysteme geht der Anspruch auf Erwerbsminderungsrente verloren. Die Rente bemisst sich an der erreichten Anzahl an Entgeltpunkten in Abhängigkeit der Beschäftigungsjahre und dem Bruttoverdienst von 1.514 €. Nach 45 Jahren Beschäftigung betrüge die Rente 628 €.

lnklusionsaktivistin Anne Gersdorff sagt, dass sich viele Mitarbeitende wünschen würden, alles Geld aus einer Hand zu bekommen. ,,Lieber einen Lohn, von dem sie leben können und damit weniger oder keine Sozialleistungen, als einen Mini-Lohn, aufgebessert mit Geld vom Staat."

Es ist nicht vorstellbar, dass der Großteil der Werkstatt-Mitarbeitenden mit geistigen, mehrfachen oder psychischen Beeinträchtigungen von einem Lohn aus einer Hand, orientiert am Mindestlohn, leben kann. Viele stehen zudem unter gesetzlicher Teil- oder Voll-Betreuung.

Die Forderung von Gersdorff, ,,Menschen mit Behinderung sollten dort arbeiten können, wo sie arbeiten wollen, wie jeder andere auch" ist unter den momentan herrschenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen nicht umsetzbar - und daran sind nicht die WfbM Schuld.

Wer kritisiert, dass die Zahlen derer, die in den allgemeinen Arbeitsmarkt eingegliedert werden können, so verschwindend gering sind, hat sich nicht die Mühe gemacht in Erfahrung zu bringen, dass die allermeisten der geistig und mehrfach behinderten Mitarbeitenden gerne in der Werkstatt arbeiten wollen, weil ihnen hier „eine besondere Umgebung" geboten wird und weil sie das geschützte Umfeld schätzen, nicht unter Leistungsdruck arbeiten zu müssen.

Allein die verallgemeinernde Bezeichnung „Menschen mit Behinderung" führt in die Irre. Es geht hier nicht um 7,8 Mill. Menschen in Deutschland mit einer Schwerbehinderung. Es geht um ca. 297.000 Menschen mit Behinderung im Arbeitsbereich einer WfbM, von denen etwa 90%, also gut 267.000 eine geistige, mehrfache oder psychische Behinderung haben, die es ihnen unmöglich macht, einen „normalen" Beruf zu erlernen oder in einer ungelernten Tätigkeit zu arbeiten, die nach Maßgabe der deutschen Industrie Mindestlohn wert wäre. Es geht also um 30.000 Mitarbeitende. Aber rechnet ihnen bitte genau vor, was von 1.032 € am Ende übrig bleibt.

Im Zusammenhang mit der laufenden Entgeltdiskussion lief an der Universität Duisburg-Essen ein Forschungsprojekt in Kooperation mit der BAG WfbM zum ,,Ansatz für eine Rahmenentgeltordnung". Mit besonderem Bezug zum, individuellen Steigerungsbetrag' beschäftigen sich Arbeits- und Sozialwissenschaftler mit der Fragestellung, ob eine einheitlich für alle WfbM gültige Rahmenentgeltordnung erforderlich sein könnte und wie sie gegebenenfalls beschaffen sein müsste. Ohne auf Details einzugehen, lautet das Fazit der Wissenschaftler:

„Eine Rahmenentgeltordnung halten wir auf Basis unserer Forschungsergebnisse für sinnvoll und die Entwicklung entsprechender inhaltlicher Eckpunkte für möglich. Als zentrale Anforderung an eine Rahmenentgeltordnung ist festzuhalten, dass sie niederschwellige Orientierung für alle Werkstätten bieten und zugleich Spielraum für Anpassungen lassen muss."

(Quelle: BAG WfbM - Werkstatt: Dialog 6.2019/1.2020 - Seiten 48-50)

Das wussten wir auch ohne Forschungsprojekt schon seit längerem. Eine Umsetzung wäre endlich mal vonnöten. Die Politik verschläft auch das gerade wieder.

 

Quelle: blickpunkt 85, Juni 2021  (PDF)